← Texte

Christian Thoelke - Zwischen den Welten

Das Kunstmuseum Ahrenshoop zeigt mit Christian Thoelke in diesem Jahr eine zeitgenössische Position, deren inhaltliche Brisanz sich auf den ersten Blick mitteilt.  Angesichts der aktuell enorm angeheizten politischen Spannungen und verschärften sozialen Konflikte vor unserer Haustür in Europa und im eigenen Land gewinnen manche seiner Bildgestaltungen eine zusätzliche Tages-Aktualität, auch wenn der Künstler dies keineswegs im Sinne einer agitatorischen Motivation beabsichtigt. Die schon länger angedachte Ausstellung kommt deshalb zum richtigen Zeitpunkt nach Ahrenshoop – in die ehemalige Künstlerkolonie, die so gerne als Rückzugsort inmitten einer Naturidylle beschrieben und wahrgenommen wird. Das Kunstmuseum Ahrenshoop versteht sich als ein Ort, an dem es nicht nur möglich ist, diese Wunschvorstellung in Kunstwerken zu genießen, sondern auch das Illusionäre daran zu erkennen und in jene Zeit-Kontexte einzutauchen, aus denen das Verlangen nach einer derartigen Illusion immer wieder erwuchs. Freilich hat der Berliner Christian Thoelke auch eine biografische Wurzel in unserer Region: Seine Mutter, die Porzellangestalterin Bärbel Thoelke, wurde in Stralsund geboren und genoss in den späten 1950er Jahren eine Ausbildung in der Keramikwerkstatt Arnold Klünders in Ahrenshoop. Als Kind verbrachte Thoelke reichlich Zeit an der Ostsee: auf der Insel Rügen, aber eben auch auf dem Fischland und dem Darß. Den Wald und das Meer – die hier allgegenwärtigen Elemente jener Landschaft, die die norddeutschen Romantiker als unberührt gebliebenes Zeugnis erdgeschichtlicher Vergangenheit erlebten – hat er ebenso verinnerlicht wie den städtischen Großraum Berlins.

Christian Thoelke ist ein Maler, der seit vielen Jahren ein Thema verfolgt. Es ist ein persönliches und zugleich ein Zeitthema, das es schon lange gibt. Der Schauspieler Charly Hübner hat in einem Aufsatz in der Sondernummer 2019 der Zeitschrift Theater heute Thoelkes Bilder mit der Zeitströmung der Neuen Sachlichkeit, die vor 100 Jahren die expressionistische und abstrakte Moderne ablöste, in Verbindung gebracht und diese erläutert als „politische, sachliche und künstlerische Sichtbarmachung dessen, was dem einen oder der anderen auffällt im Gewusel des spätkapitalistischen Zurechtlebens.“ Thoelke selbst identifiziert sich mit diesen Worten eines gleichaltrigen Künstlers aus einem anderen Metier. Er ist Großstädter, im einst proletarischen Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg aufgewachsen, wo er heute noch lebt. In Berlin hat er auch studiert, an der Kunsthochschule Weißensee bei Wolfgang Peuker, der von der Leipziger Schule herkam und ein ausgefeiltes, altmeisterliches malerisches Handwerk vermittelte.

Was Christian Thoelke „auffällt im Gewusel des spätkapitalistischen Zurechtlebens“, beschäftigte schon die Romantiker vor mehr als 200 Jahren. Es ist die Kluft zwischen unserem zivilisierten Dasein und der Natur, aus der wir kommen, die beunruhigende Erkenntnis, dass unsere abstrakten Denkgebäude und die davon mitbestimmten Organisationsformen unserer Existenz von der Natur wegführen und wir somit ständig im Begriff sind, uns zu verlieren, umso mehr, je weiter unser Fortschritt reicht. Der Fortschritt, den wir preisen, produziert eine Geschichte, der wir gleichwohl manisch nachgehen, auf der Suche nach einem Rückweg ins verlorene Paradies. Die Kunst des 19. Jahrhunderts ist voller Motive, die dieses Thema berühren, und auch heute geht es noch darum – nicht nur bei Christian Thoelke.

Leben wir in einer Spätzeit? Der französische Maler Paul Gauguin ist den Fragen Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? in der Südsee nachgegangen, fern von Europa, in einer anderen Kultur, die er als ursprünglicher – den Quellen näher – als die eigene erlebte. Sein großformatiges Gemälde aus dem Jahr 1897 – Gauguin hielt es für sein Hauptwerk und künstlerisches Vermächtnis – hängt heute in der US-amerikanischen Kulturstadt Boston, eingeordnet in eine der bedeutendsten Schatzkammern des Westens und der sogenannten Dritten Welt, aus der der Künstler schöpfte, denkbar ferngerückt.

Was ist aus der von einem Maler wie Gauguin gelebten Überzeugung geworden? Gibt es heute noch Figuren wie Joseph Beuys, die gleiche Fragen ähnlich radikal aufwerfen und verfolgen? Ich meine, dass es um die Radikalität nicht unbedingt geht. Als angenommener künstlerischer Wert ist sie eine der missverständlichen Schlussfolgerungen, die aus der Avantgardebewegung des 20. Jahrhunderts gezogen wurden. Es gibt verschiedene Formen der Bewusstmachung, und manchmal wirken die leiseren besonders eindringlich. Christian Thoelkes Malerei bewegt sich auf einem Feld leiser Bewusstmachung. Seine Bildwelt hat Quellen oder Parallelen im 19. Jahrhundert: in der Landschaftsmalerei der Künstlerkolonien und in den Ruinendarstellungen der Romantik. Aber auch die Malerei der Renaissance mit ihren damals eben erst in Angriff genommenen säkularen Darstellungsbereichen und der unerhörten Intensität, die die Maler der „Entdeckung der Welt und des Menschen“ widmeten, ist ihm nahe. In beiden Zeitperioden herrschte eine besondere Geschichtszuwendung, die einen jeweils im Gange befindlichen Identitätswandel begleitete: in der Renaissance die zur Antike, in der Romantik die zum Mittelalter. Was wir heute in dieser Kunst als Historisierung erleben, war jedoch niemals ein bloßes Stilmittel, sondern entsprang eben jener in Zeiten des Umbruchs immer drängenden Frage, woher der Mensch kommt und was ihn ausmacht.

Mir tritt diese Frage ebenso aus Christian Thoelkes Kunst entgegen. Seine Bilder haben eine suggestive Klarheit und zugleich etwas Verwunschenes, als sei der Lebensfluss darin zum Stillstand gekommen. Auch dieses Motiv ist alt. Wir kennen es aus manchen Märchen: Ein Mensch, eine Gesellschaft fallen in Erstarrung und müssen erlöst werden. Die Zeit geht währenddessen über sie hinweg. Sie bleiben, die sie sind, und werden doch Vergangenheit. Was heißt das für das Selbstgefühl, für die Gewissheit, am Leben zu sein? Was bleibt übrig von der Gegenwart, wenn sie Geschichte wird, noch während wir dabei sind? Tatsächlich trifft in Christian Thoelkes Kunst die Historisierung Dinge, Gebäude- und Ortscharaktere, die uns sehr vertraut sind, weil wir sie aus einem eben erst gewesenen Alltag in lebendiger Erinnerung haben. Er stellt sie als entleert dar, als vernagelt, aufgegeben und im Verfall begriffen. Die Natur macht sich darüber her und bringt sie zum Verschwinden – vor unseren Augen. Was in diesen Bildern zutage tritt, ist eine Atmosphäre des Unbehaust-Seins, weil zu dem, was verlassen worden ist, kein Bezug mehr hergestellt werden kann. Die Identifikation ist abgebrochen – vor der Zeit, so scheint es. Der Mensch, der dies bemerkt – denn ums Bemerken geht es, ums Gewahrwerden und Erkennen –, ist dem ausgesetzt, für sich allein. Das Unbehaust-Sein ist ein geistiges und tut sich in den durchaus zeichenhaft gemeinten Inszenierungen kund. Die Menschen in Thoelkes Bildern sind Zeugen und auch Träger dieses Zustands. Sie sehen und fühlen, sie träumen ihn und versuchen, sich darin zu rühren, gelegentlich auch auszubrechen.

Die fotografisch wirkende Genauigkeit der Malerei erzeugt den Eindruck von Realität, aber es ist eine fiktionale, zugespitzte Wirklichkeitsnähe. Das Fragetrio „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“ bleibt darin ohne Antwort, als stünde der Künstler auf einem Streifen Niemandsland zwischen den Welten. Der rettende Ausblick in die Natur jedenfalls bleibt illusionär: Christian Thoelke entlarvt ihn unter anderem als eingerissene Tapete eines obsolet gewordenen Schutzraumes.