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Moderne Ruinen

Das ruinöse Ineinanderfallen von Geschichte und Gegenwart schwingt thematisch in einer Reihe von großformatigen Gemälden mit, die der Berliner Maler Christian Thoelke um das Jahr 2020 produziert hat. Bilder wie Halle, Basketball, Gerüst oder Birkenhain zeigen Orte, die sich in einem desolaten Zustand der Verlassenheit und Überwucherung befinden. Es sind Bilder von modernen, post-sozialistisch anmutenden Ruinen, die beim Betrachten ein merkwürdiges Unbehagen auslösen. Was ist hier los? Wo sind diese Orte? Da ist etwa das Motiv der aufgegebenen und mit Holzplatten vernagelten „Kaufhalle“, um die ein einsamer Wolf streift. Eine andere Leinwand mit dem Titel Gerüst zeigt ein verloren wirkendes Klettergerüst in einem Birkenwäldchen. Auf der Leinwand Idylle ist ein wiederum verlassener, leicht erhöhter Platz mit zwei Stufen zu sehen, auf dem ein blauer Monobloc-Stuhl in der Sonne steht. Wessen Rückzugsort mag das sein? Die Anlage wirkt wie jene Ecken, die es früher fast auf jedem DDR-Schulhof so oder so ähnlich gab. Zu bestimmten Anlässen wurden dort regelmäßig sogenannte Fahnenappelle abgehalten, zu denen die gesamte Schülerschaft in Pionier- oder FDJ-Hemden antreten musste. „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“, heißt es am Beginn von Christa Wolfs Mitte der siebziger Jahre erschienenem Erinnerungsroman Kindheitsmuster. „Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“  Die Muster freilich bleiben und sorgen für Unbehagen.

Immer wieder tauchen auf Thoelkes Bildern Birken und Essigbäume auf. Beide Pflanzen gelten als „Pioniergewächse“, weil sie aufgrund ihrer Anspruchslosigkeit auch unter unwirtlichen Bedingungen gedeihen. Sie kommen mit relativ wenig Nährstoffen und Wasser aus. Deshalb findet man sie auch auf sandigen Böden, auf kahlen Schutt- und Brachflächen, sogar in Asphaltrissen, Mauerritzen und auf den Dächern von verfallenen Gebäuden.

Oft markieren diese Pflanzen einen Zwischenzustand, der typisch für die zeitgenössische Ruine zu sein scheint, zumindest in der wiedervereinigten deutschen Hauptstadt, die seit drei Jahrzehnten einer Verdichtung unterzogen wird. „Ständig wird gebaut in Berlin“, charakterisierte der Journalist und Autor Ulrich Gutmair bereits 2013 die Situation. „Wo eben noch eine Brache war, voller Gräser und Essigbäume, die sich überall verbreiten, wo keine gärtnerische Hand waltet, weil die Eigentumsverhältnisse unklar sind, wo Erben sich streiten, wo spekuliert wird oder vor Jahren ein Investor pleite gegangen ist, da werden zwei Wochen später die Fundamente für einen Neubau gelegt. Die Brachen verschwinden unter den Neubauten, und mit ihnen die Essigbäume und die Erinnerungen.“ Die Erinnerungen, um die es in Thoelkes Bildern geht, sind offenbar Erinnerungen an den Alltag im „real existierenden Sozialismus“, Erinnerungen an eine grandios gescheiterte Utopie, Erinnerung an eine radikale Transformationserfahrung, die in den frühen Neunzigern eine ganze Gesellschaft erfasste und deren Effekte bis in die Gegenwart reichen.

In der Einleitung zu seiner Kulturgeschichte Ruinen. Die gegenwärtige Vergangenheit stellt der französische Philosoph und Kunsthistoriker Michel Makarius fest, dass die klassischen Ruinen bis heute noch ihre „im 18. Jahrhundert entstandenen poetischen Bedeutungswerte“ verkörpern. Doch Makarius fügt hinzu, dass der Blick auf die Ruine heute ein anderer ist. „So haben wir die emphatische Perspektive einer menschlichen Bestimmung aufgegeben, die sich angeblich in der Größe und dem Niedergang von Zivilisationen widerspiegelt; die klassische Kultur hat aufgehört, als Modell von Bildung und Wissen zu gelten, und die Kultur der Kathedralen verkörpert nicht länger das Modell eines inbrünstigen Glaubenseifers, sodass sich auch das ‚moralische Gefühl‘, das einst die Betrachtung von Ruinen hervorrief, nicht länger einstellt.“ Ruinen können also auch heute noch als Reste betrachtet werden, denen man eine „symbolische und ästhetische Würde zuschreibt“. Doch ihre „Gefühlsladung“ hat sich verändert und ist profan geworden. Sie bleibt in einem ständigen Fluss begriffen.

Mit dem Anbruch der Moderne haben sich die Erscheinung und die inhaltliche Aufladung der Ruine noch einmal radikal gewandelt. Sie wird zeitgenössisch und zeugt nicht mehr nur allein von der Vergangenheit, sondern von der Gegenwart. „Die Ruine ist der eigentliche Zustand der modernen Dinge.“ So brachte die französische Philosophin Françoise Proust diesen Gedanken auf den Punkt. Aus dieser Perspektive leben auch wir bereits inmitten der Ruinen der Zukunft. Es sind die „Ruinen des Kapitalismus“.

Das Motiv der Zeit ist vielfältig in die Bilder von Christian Thoelke eingeschrieben. Seine Gemälde spiegeln etwa das Interesse des Künstlers an altmeisterlichen Techniken. Der Maler grundiert seine Leinwände in mehreren Durchgängen, bis sie ganz glatt sind. So wird eine detailreiche Malweise möglich. Durch Untermalung gibt er seinen Bildern einen warmen Grundton und Zusammenhalt. Seine lasierende Maltechnik verweist auf die Malerei der Neuen Sachlichkeit. Mit dem Verweis auf Graffiti im Bild bezieht er sich hingegen auf die zeitgenössisch-urbane Ästhetik von halblegal arbeitenden flüchtigen Szenen, die ihren ganz eigenen Kanon und Formen der Könnerschaft ausgebildet haben.

Im künstlerischen Spiel mit Verweisen kommt auch der Sprache eine wichtige Rolle zu. Schon dem von Thoelke zitierten Begriff der „Kaufhalle“ haftet das Gefühl des Aus-der-Zeit-gefallen-Seins an. Er klingt gerade so, als handele es sich dabei selbst bereits um eine Art sprachlicher Ruine. Heute hat sich die Bezeichnung „Supermarkt“ auch in Ostdeutschland weitestgehend durchgesetzt. Das Wort „Kaufhalle“ stammt aus der DDR-Alltagssprache, wo es für eine bestimmte Art von Selbstbedienungs-Lebensmittelgeschäften benutzt wurde. Nach dem Ende der DDR verschwand das Wort schleichend aus dem alltäglichen Sprachgebrauch. Den mit dieser Bezeichnung verbundenen realen Architekturen, einst betrieben von „HO“ oder „Konsum“, erging es ähnlich. Der Anfang vom Ende der Kaufhalle liegt irgendwo in der Zwischenzeit von Herbst 1989 und Oktober 1990. „So schlicht es klingt, aber die ersten sichtbaren Zeichen kapitalistischer Marktwirtschaft […] waren die Joghurtpaletten, die plötzlich in den Kaufhallen auftauchten […]“, schreibt etwa der Soziologe Steffen Mau. Manche dieser Gebäude werden bis heute in modifizierter Form weiterhin als Supermärkte benutzt, andere sind umgenutzt, stehen leer oder sind längst abgerissen und durch Neubauten ersetzt.

Die Industrialisierung und Typisierung des Bauens führte in der DDR zu einem Repertoire an Bauformen, das sich in das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung einprägte. Die auffällige trapezförmige Spannbetondachkonstruktion etwa, das sogenannte „VT-Faltendach“, gehört dazu. In Thoelkes Bild zieht sich das Faltendach wie ein endlos erscheinendes architektonisches Ornament durch das Bild. Diese Konstruktion wurde nicht nur für Kaufhallen benutzt, sondern sie bedeckte auch eingeschossige Gaststätten, Jugendclubs, Turn- und Schwimmhallen, Lager- und Produktionsgebäude.

Kaufhallen gehörten zum Standardrepertoire in den ostdeutschen Neubauvierteln, die als sozialistische „Idealstädte“ in den Siebzigern und Achtzigern nach einem staatlichen „Wohnungsbauprogramm“ an Orten wie Berlin-Marzahn, Berlin-Hellersdorf, Berlin-Lichtenberg, Rostock-Lichtenhagen, Halle-Neustadt, Leipzig-Grünau und anderswo regelrecht aus dem Boden gestampft wurden. „Die DDR war stolz auf ihre Neubaugebiete, so stolz, dass man Postkarten von ihnen herstellte“, schreibt Steffen Mau in seinem Buch über das Rostocker Neubauviertel Lütten Klein, in dem er selbst einst aufwuchs. „Wo alle Formen und Funktionen auf dem Reißbrett erschaffen werden konnten, ließen sich Vorstellungen des sozialistischen Miteinanders realisieren, welche die gesamten Lebensumstände erfassten.“ Jenseits der Reißbretter, in der Wirklichkeit, sah der Alltag freilich ganz anders aus.

Waren die DDR-Großsiedlungen tatsächlich eine Art verwirklichte Utopie, bewohnbare Science-Fiction? Oder doch nur ein einziger gebauter Horrorfilm? Der Autor Jens Bisky etwa, der Anfang der achtziger Jahre als Teenager mit seiner Familie von Leipzig-Ost nach Berlin-Marzahn in eine „unwohnliche Wohnung“ umzog, beschreibt die DDR-Neubauviertel als Sinnbilder einer „Gesellschaft ohne Gesellschaft“, in denen es an Freiräumen fehlte. „Hässliche Häuser gibt es überall auf der Welt. Aber in der DDR liefen die Zerstörung des Städtischen und die politische Zersetzung des Bürgerlichen parallel.“ Steffen Mau weist auf die Unterschiede in Betrachtung dieser Viertel hin. „Plattenbauviertel werden heute eher negativ gesehen, gerade im Westen. Aber in der DDR waren das arrivierte Wohnmilieus mit einem eigenen Selbstbewusstsein.“ Dieses Selbstbewusstsein wurde allerdings auf harte Proben gestellt. In Leipzig-Grünau beispielsweise ließen sich die „Wohnkomplexe“ noch lange Zeit nach der Fertigstellung in den Achtzigern nur über unbefestigte, verschlammte Trampelpfade erreichen. Auch das ist eigentlich längst vergessen.

Walter Benjamin beschrieb das Gedächtnis in seinen Denkbildern als das „Medium des Erlebten, wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf ein und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen, wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt.“ Christian Thoelke spricht von „Sinnbildern“, wenn er über das Malen spricht. „Es geht darum, ein Bild zu finden, mit dem man eine bestimmte Geschichte erzählen kann.“ Das Malen ist Teil des Erinnerns. Das Graben nach dem Verschütteten fördert eigentümliche und faszinierende Bilder zutage.