Christian Thoelke ist Berliner. Im Prenzlauer Berg ist er aufgewachsen und wohnt hier noch immer. Auch die Malwerkstatt ist dort, der Raum, wo die meistens großformatigen Bilder entstehen und die Nachbarzimmer zunehmend ausfüllen. Denn der 37-jährige ist ein stetiger Arbeiter, der sein Oevre auf geradem Wege aufbaut. Bis 1999 studierte er in Berlin-Weißensee bei Wolfgang Peuker, der seinerseits in den 70er und 80er Jahren zu den wichtigsten Protagonisten der vielgerühmten „Leipziger Schule“ zählte, neben Sieghard Gille wohl der damals Prominenteste seiner Generation. Peuker schulte sich an älteren Meistern der Renaissance und des Barock. Sein großes Thema „Welttheater“ führte ihn neben vielfach allegorischen Figurenbildern auch zu einer psychologisch hellsichtigen und tiefsinnigen Porträtmalerei.
Bei Peuker fand Christian Thoelke Ansätze in Inhalt und Handwerk: Sie trugen zu jenem aufgeschlossenen, respektvollen und nachdenklichen Verhältnis zur Tradition europäischer Weltkunst bei, das seiner Malerei so zugute kommt, ihr sozusagen Bodenhaftung gibt. Zu den Voraussetzungen dieser Tradition gehört eine ausgefeilte Maltechnik ebenso wie ein genaues und fortgesetztes Naturstudium, auch wenn Christian Thoelke, wie es andere seiner Generation ebenfalls tun, häufig nach Fotografien arbeitet. Thoelke ist ein hervorragender Handwerker. Er beherrscht die altmeisterliche Lasurtechnik mit ihren raffinierten, die Modellierung vorbereitenden Untermalungen, aus dem Effeff. Das sehr natürliche, dem Malgrund wie eingespeicherte Licht seiner Bilder wäre ohne das nicht herzuzaubern, so wenig wie die substantielle Präsenz der Räume, Figuren und Gegenstände, die die Bildwelt des Malers ohne intellektuelles Zugeständnis als naturgegebene erscheinen lassen. Diese mühelose Überzeugungskraft der Malerei als Wirklichkeit erinnert an die bürgerlichen Interieurs der Niederländer um Vermeer van Delft, aber auch an den Romantiker Caspar David Friedrich, von dem wir wissen, dass er Wirklichkeit malend hinzuerfunden und neu zusammengesetzt hat, ohne dass diese Friedrich’schen Geheimnisse je ganz gelüftet worden wären – und wer in Vermeers Universum eintauch, wird auf ähnliche Geheimnisse stoßen. Auch bei Thoelke sind sie vorhanden – nicht, wie bei Friedrich, als solche wechselnden Tageszeiten und Witterungen, sondern als Geheimnisse der Mittagshelle, der bleiernen Stunde, wo die Sonne am Himmel ihren Zenit erreicht, der Stunde zwischen Aufstieg und Niedergang, wo noch nicht zu spüren ist, wie der Tag sich abschwächt , sondern die Spannung gehalten wird in der Atmosphäre, als pausiere die Welt zum unzähligsten Mal beim Atmen, um die Zeitläufe anzuhalten für diese Dauer. Das geschieht in aller Stille und ohne Zeugen, denn der Maler hat die Menschen aus seinen jüngsten Bildern verbannt: nicht für immer, nur vorrübergehend, zugunsten eines ungestörten Dialoges mit dem bisherigen Ambiente jener menschlichen Begegnungsdesaster, die er kulturkritischem Tenor und veristischer Scharfzeichnung mehrere Jahre ins Bild gesetzt hat. Derart, dass die aus solchen Szenen sprechende Beunruhigung den Status einer Ausschließlichkeit anzunehmen drohte, der der Maler sich keinesfalls zu verpflichten vorhat. Denn es geht um mehr als zwischenmenschliches zu malen. Malbar ist dies ohnehin nicht, sondern malbar ist, was sich an den Oberflächen der Dinge als sichtbare Spur eines Zustandes manifestiert, der von zwischenmenschlichen Ereignissen zwar berührt, indessen aber viel mehr ist als ihr bloß augenblicklicher Widerschein.
Stärker als Porträts und szenische Figurenbilder ist das Stillleben als Ausdruck geronnener Zeit nächster Gegenstand einer Kunst, die als Form und Farbe auf der Fläche sich artikuliert. Es ist eine Sprache des visuellen Nebeneinanders, die mit Indizien operiert, mit dem Anschein eines stets bereits vergangenen Geschehens, auch dann, wenn dieses rein spekulativ, in eine erfundene Zukunft hinein verlegt ist. Im Stillleben, jener explizit bürgerlichen Gattung, wird diese Dingwelt vergegenständliche Geschichte, wo gleichwohl das Spekulative des religiösen Kontextes aller früheren Malerei mit aufgehoben ist. Es ist somit Anlass und Aufforderung, sich ins Sichtbare zu versenken, um eben dort Aufschluss über die Welt zu erhalten. Christian Thoelkes Malerei ist in diesem Sinne stilllebenhaft, aber nicht in vertrauter Weise zentriert, mit den Dingen im Mittelpunkt, sondern handelt von Interieurs als den Orten des Stilllebens, von Innen räumen, deren Kern abhanden gekommen ist, sodass sie sich in Schauplätze von Abwesenheit, ja Verlassenheit, verwandelt haben. Auch die Straße ist bei Thoelke Innenraum und die Lichtung im Wald. Das Ruinöse dieser Schauplätze ist nicht immer offensichtlich; es ist mehr eine vorzeitige Verwahrlosung, wie sie sich einstellt, wenn etwas aufgegeben, eben verlassen wird. Nicht das klassische Memento mori ist hier ausgesprochen, jenes Erschauern von dem schicksalhaften „Zahn der Zeit“, der grausamen Seite der Natur, die die Welt der Menschen unwohnlich macht, indem sie darüber hinweggeht - sondern ein Memento, das die Hybris menschlichen Verwerfens betrifft, die durch Achtlosigkeit hervorgerufenen Verwerfungen. Caspar David Friedrich konnte noch die Ruine seiner „Abtei im Eichwald“ als natürlich endendes Menschenwerk im Kreislauf der Schöpfung ansiedeln. Christian Thoelke, zweifellos im Dialog mit dem großen Romantiker, kann solch einverständliche Heimführung von Siedlungsrelikten unserer jüngsten Vergangenheit nicht vollziehen. Was bei Friedrich Ruine, ist bei ihm ein „Rest“, etwas Abgebrochenes und Eingerissenes, nicht zu Ende verbrauchtes Überbleibsel, dem Wald in den Schoß gelegt wie ein Kuckucksei, ein kontaminierter Gegenstand ohne Lebens- und Sterbensperspektive.
Solchen „Restzuständen“ einstiger Wohnlichkeit gewinnt Christian Thoelke gewissermaßen ihren letzten Reiz ab, denn er geht mit ihnen um, als wären sie intakte Arrangements und besäßen eine sinnvolle Ordnung. In der Tat scheint die rein ästhetische Perspektive den Maler mit neuartigen, bizarren aber frischen formalen und farblichen Einfällen und Kombinationsmöglichkeiten zu beschenken. Die zuweilen fast konstruktivistisch anmutende Bildstrenge belebt sich durch die Rapporte der Fliesen-. Linoleum- und Tapetenmuster, der Vorhänge, Wandverkleidungen, Straßenpflaster und Mauerwerke. Eingefasst sind diese Rhythmen von der Geraden der Bordsteinkanten und Scheuerleisten, Fenster- und Türrahmen, aber eben auch von quertreibenden Formen, von Dingen, die lose herabhängen oder herumliegen und durch diese gesetzlose Art sich zu geben etwas wie einen noch nicht gebändigten Lebensansatz zu verkörpern scheinen.
Ist es zu viel an Zuversicht, bei der immer noch attraktiven Seerosentapete eines der Thoelkeschen Interieurs an Monet zu denken? Zuviel an Zuversicht, dass Erinnerung und kulturelle Integration über das entmündigte Zitat hinaus doch noch möglich sind? Vielleicht gibt die emphatische Aufmerksamkeit mit der ein Maler wie Christian Thoelke die verworfene Seite unserer Gegenwart in den Blick nimmt, hierzu ein Zeichen.