Weil die Gebäude einer Stadt meist viel länger existieren als die Realität, für die sie geschaffen worden sind, können sie viel erzählen, über das, was man sich dort einmal gewünscht hat und was man für das ideale Leben hielt. Die Ausstellung »Paradies«, in der der Künstler Christian Thoelke eigene Werke einer Auswahl von Stadtlandschaften Berlins aus der Kunstsammlung der Berliner Volksbank gegenüberstellt, verbindet diese zwei Zeitebenen. Zum einen sieht man das Berlin der 1980er- und 1990er-Jahre, einer Zeit politischer Umbrüche, aber auch großer Hoffnungen. Zum anderen fragen die Werke Thoelkes gut 40 Jahre später, was aus diesen Hoffnungen und Träumen geworden ist. Seine Bilder kommen alle ohne Menschen aus. Sie zeigen, inwieweit die Gebäude selbst die Geschichte erzählen können, vielleicht viel besser als ihre Bewohner, die die Häuser überhaupt erst mit Leben und Bedeutung gefüllt haben.
Wenn ein hellblau vergilbter Monoblock-Plastikstuhl vor einem leuchtenden, fast kitschigen Sonnenuntergang steht (»Sonnendeck«, 2024), dann prallen Realität und Verklärung, Vergangenheit und damals erhoffte Zukunft aufeinander. Gleichzeitig wird bei genauem Hinsehen klar, dass der Sonnenuntergang eine Tapete ist, die sich bereits in Wellen von der Wand ablöst, auf der sie angebracht ist; der Stuhl, wenn man ihn berühren könnte, würde die Hand auf stumpfes Plastik treffen lassen. Die Spuren des vergangenen Glaubens an bessere Tage wehen durch die menschenleeren Szenerien. Der Konsum, die verlassenen Kauf- und Trinkhallen, die einmal im Glauben an ein besseres und gerechteres Leben errichtet wurden, sind heute Teil von etwas, das langsam verschwindet, aber immer noch da ist und die Gegenwart prägt.
Bunt verwaschene Graffitis erzählen davon, dass hier einmal Menschen ihre Freizeit verbracht haben. Ihre Urheber haben dem Konsum und seiner Gegend wohl schon seit geraumer Zeit den Rücken gekehrt. Hier hat lange niemand mehr gesessen. Über all dem funkelt der Sternenhimmel so, als müsste er die vielleicht nie richtig erblühte Landschaft doch noch mit aller Kraft zum Strahlen bringen. Obwohl die Motive fast dokumentarisch anmuten, sind sie fiktiv. Sie könnten so oder so ähnlich in der Realität existieren, sind aber aus Versatzstücken einer vergangenen Zeit zusammengestellt, die gleichermaßen aus Erinnerungen und Fotografien bestehen.
Angesichts tiefgreifender Veränderungen der Städte durch Digitalisierung, Globalisierung und Klimawandel lohnt sich ein Blick zurück. Und so erweitert Thoelke seine Perspektive durch Werke von Manfred Butzmann, Ursula Strozynski, Rainer Fetting und anderen, die das Berlin der 1980er- und 1990er-Jahre festgehalten haben. Butzmanns Druckgrafiken zeigen verfallene Villen in Pankow, den Hochbunker in Mitte, der heute eine Kunstsammlung beherbergt, meterhohe, fensterlose Hauswände, den Fernsehturm, der hinter den Fassaden hervorlugt. Ursula Strozynski hat die geisterhaft leeren Treppenaufgänge des S-Bahnhofs Ostkreuz so filigran gemalt, dass sie wie eine Fotografie wirken und der S-Bahnhof Jannowitzbrücke neben der Spree ist, mitsamt jeder seiner kleinen Fensterscheiben, mit festem Strich gezeichnet. Ihre Druckgrafiken prägen das Bild einer Stadt im steten Wandel. Die Werke der Künstlerinnen und Künstler dieser Generation sind inmitten des politischen Umbruchs entstanden und verbinden das, was Thoelke heute sieht, mit dem Moment ihrer Entstehung und Blütezeit.
Thoelke wuchs bis zum 16. Lebensjahr in der DDR auf. Er hat den Wandel und die Veränderung erlebt, die sich an den Gebäuden abbilden, die nach wie vor das Bild der Städte bestimmen, obwohl der Staat, in dem sie geschaffen wurden, nicht mehr existiert. Gebäude, die, obwohl sie heute verfallen und vernachlässigt wirken, doch auch von Aufbruch und Hoffnung erzählen. Gerade, wenn man bedenkt, dass sie in einer Welt bestehen, in der im gleichen Moment von Smart Cities gesprochen wird und in vielen deutschen Innenstädten moderne, optimistische Neubauviertel entstehen, die mit dem gleichen hoffnungsvollen Enthusiasmus wie dereinst bezogen werden, entfalten sie ihre Aktualität. Die Bilder eines zukünftigen Berlins werden wieder gänzlich andere sein.
Verbindet man die heutige mit der vergangenen Perspektive, ergibt sich ein komplexes Bild, das den Blick für Stadtlandschaften und ihre Bedeutung für die Menschen, die sie beherbergen, schärft.