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Was die Zeit übrig lässt

Der Berliner Maler Christian Thoelke erlebte die Wende als Befreiung und kommt doch nicht von der DDR los. Seine Bilder sind Zeugnisse der Verwandlung.

Wir treffen uns im Atelier von Christian Thoelke, in einem abgetrennten Hallenteil in einem alten Gewerbegebiet in Weißensee. Es geht tief hinein in die noch nicht zu Ende gentrifizierte Hinterhofstruktur, durch ein rostiges Maschendrahttor in einen kleinen, geschützten Betonwinkel. Draußen stehen nasse, noch winterverquollene Holzgartenmöbel. Schon durchs Fenster kann man die großformatigen Gemälde sehen, die ihrerseits abgeranzte, teilweise überwachsene, allerdings jüngere Architekturen aus realsozialistischer Zeit zeigen. Es gibt etwa eines mit einer verlassenen Plattenbauwohnzelle: an der einen Wand eine Südseelandschaft auf angeschimmelter Tapete – mit Strand und Palme im goldenen Abendlicht – und daneben ein rahmenloser Fensterdurchbruch, durch den junge Ahornstämme hereinwachsen.

Es ist ein Blick durch verschobene Raum- und Zeitschichten, in Niemandsländer und verlorene Landschaften mit umgekrempelten Ruinen, in denen Innen- und Außenwelt changieren. Weil es zu regnen begonnen hat, schieben wir eine schwere Tür auf und gehen hinein. Es riecht nach Terpentin und frisch aufgebrühtem Kaffee. Wir kommen sofort ins Gespräch, teilen gemeinsame Erinnerungen an unsere Zeit an einem Pankower Gymnasium während der Wendezeit, wo wir uns über den Weg gelaufen sein müssen.

Christian Thoelke, Jahrgang 1973, entstammt „der Intelligenz“, wie man damals sagte, er ist in Prenzlauer Berg und Pankow aufgewachsen, seine Mutter arbeitete als Porzellandesignerin, der Vater als Medizininformatiker. Sein künstlerisches Talent wurde vom Elternhaus gefördert, der Studienplatz an der Kunsthochschule Weißensee, wo auch die Mutter studierte, früh klargemacht. Aber was interessierten damals schon groß Abitur und Ausbildung?

Thoelke besetzte noch während der Schulzeit zusammen mit Freunden ein Eckhaus gegenüber der Schule, richtete ein Kulturzentrum mit einer Bar ein, veranstaltete Konzerte und später Technonächte. Das Kunststudium lief in den Neunzigern nebenher, die Dozenten waren so verunsichert wie die Eltern, kannten sich mit den neuen Bedingungen und Anforderungen kaum besser aus als wir Halberwachsenen, denen sich rechtzeitig vor dem Einstieg ins Berufsleben und kurz vor dem Wehrdienst die Welt öffnete.

Das Selbstbewusstsein der Gesellschaft um uns herum zerbröselte. Was würde Bestand haben, was verdiente, dass es verrottet? Wie verhält man sich, woran hält man sich? Es war ein bisschen wie sturmfreie Bude, nur dass die Eltern nie wieder nach Hause kommen würden. Und bevor man richtig verstanden hatte, was einem anvertraut wurde, hatten es sich schon andere unter die Nägel gerissen.

Als Meisterschüler des Malers und Grafikers Ulrich Hachulla pendelte Thoelke in den Jahren 2001 bis 2003 öfter zur Hochschule für Grafik und Buchkunst nach Leipzig und fand in der sächsischen Stadt eine Atmosphäre der Selbstachtung vor, die sicher etwas mit der Neuen Leipziger Schule rund um Judy Lybkes Galerie Eigen+Art zu tun hatte. Diese Künstler warfen nicht so schnell wie möglich alles über Bord und suchten keinen Kurzanschluss an die neuen Zeiten, sondern besannen sich auf den Wert ihrer eigenen Identität – ihr Anspruch der Nichtzugehörigkeit wurde geradezu zum Gruppenmerkmal.

Es ist vielleicht nicht immer ein Versagen, sondern auch eine Fähigkeit und kann von Vorteil sein, Züge abfahren zu lassen. Zumindest ist es die kleinere Übung, wenn man erlebt hat, wie die Kette der Generationen nach zwei Weltkriegen und einer kollabierten Utopie endgültig abgerissen ist.

Ein Hauptteil von Thoelkes Werk sind Bilder von Ruinen jener Übergangszeit. Man kennt die Ecken, auch wenn man in der Wirklichkeit achtlos an ihnen vorbeigeht: verlassene, verbarrikadierte Kaufhallen unter futuristischen Wellendächern, bröckelnde Mauerelemente aus Zementschmuck, Appellplätze, von Birken und Essigbäumen umstellte Plattenbau-Skelette, aus denen es noch immer nach feuchtem Zement zu riechen scheint – oder ist es doch schon der Moder, der einen anatmet? Wie vertraut einem diese erodierenden Materialien sind: übermalte Roststellen, gesprungene Mosaikkacheln, abgekratzter Tapetenkleister, zusammengefegter Staub.
Die Natur kehrt zurück. Schimmel, Moose und Pioniergewächse brechen durch gerissene Gehwegplatten, die vielleicht schon kaputt waren, als man sie verlegte. Hier und da stehen sogar Rehe herum oder Wölfe, aber selbst die scheinen sich abzuwenden, sich fremd und verlassen zu fühlen und nicht zu wissen, ob die Menschen zurückkehren werden − und ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen wäre. Die Bilder erinnern auch an die Idyllen apokalyptischer Landschaften, etwa die verseuchten Gebiete um das Atomkraftwerk Tschernobyl. So, als wären ihre Bewohner Hals über Kopf aus ihrer vergifteten Geschichte geflohen, und das sind sie ja auch.

Thoelke spricht von Strukturschwäche, Bevölkerungsrückgang in der ostdeutschen Provinz, von Rückbau und Männerüberschuss, sozialem Stress und AfD-Wut. Er weist darauf hin, dass die Bilder keine Rückblicke sind, schon gar keine ostalgischen. Sondern dass es sich um gegenwärtige Motive handelt, um den verdämmernden Widerschein einer Noch-Welt. Er scheint eine Lücke in die Zeit reißen, den Moment zwischen Abwertung und Verwertung anhalten zu wollen, um allem, was dranhängt an Biografien und Erinnerungen, eine Atempause zu verschaffen. Man weiß nie, ob in diesen Bildern eine Erzählung anfängt oder zu Ende geht.

Christian Thoelke hält diese verlassenen Nischen mit naiv scheinender, manchmal gar leicht unbeholfen wirkender Akkuratesse fest, während die Welt längst in neuen, final scheinenden Konflikten liegt und auf ihren Untergang zuzustreben scheint. Dieses Festhalten ist ein kleiner renitenter Akt der Beharrlichkeit, der eines Künstlers würdig ist. Thoelke hat in der Vergangenheit neben seiner Kunst auch immer andere Arbeiten machen müssen und seine Existenz zum Teil durch Filmset- oder Messebau finanziert. Umso besser, dass von 3. Juni bis 20. August in der Ausstellung „Werk Statt Sammlung“ im Kunsthaus Minsk in Potsdam auch zwei Thoelke-Bilder aus der Sammlung von Hasso Plattner zu sehen sein werden.

Er sei jetzt über die Mitte des Sees hinausgeschwommen, sagt Thoelke. Er habe den Moment, an dem man noch einmal zurückkann, um noch einmal von vorn anzufangen, längst hinter sich gelassen. Und doch behält er die Ruhe und stellt sich mit seinem Tun neben die Zeit. Er hält an, wo andere vorübergehen, sammelt Spuren und Zeugnisse, fügt sie zu Bildern, misst großflächig Verlorengehendem mit feinem Pinsel Wert bei. Allein schon indem er sich damit aufhält, entdeckt er die in den Ritzen der Ruinen abgelagerten Erfahrungen einer gescheiterten Utopie wieder, konserviert sie und macht sie teilbar.

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